Wie man sieben Jahre als Obdachloser in Berlin überlebt – und von der Straße wegkommt

2022-08-20 13:24:50 By : Ms. Kelley Wong

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Uwe Tobias saß in der DDR im Gefängnis, lebte nach 1990 in Berlin auf der Straße. Dort traf er einen ehemaligen Gegner wieder. Von allem erzählt er bei Führungen.

Maria Häußler , 11.8.2022 - 13:17 Uhr

Uwe Tobias greift in seine Umhängetasche und zieht ein Stück braune Pappe heraus. Dieses Material vollbringe wahre Wunder, meint er. Pappe vom Gemüsehändler schützte den ehemaligen Obdachlosen vor Kälte und Regen. Tobias wollte nach der Wiedervereinigung drei Tage lang auf der Straße leben. Daraus wurden siebeneinhalb Jahre. Heute erzählt er zum eintausendsten Mal, wie er überlebt hat.

Der Verein Querstadtein e.V. organisiert seit mehr als neun Jahren Stadtführungen, die einen Perspektivwechsel ermöglichen. Außer ehemaligen Obdachlosen führen auch Menschen mit Fluchtgeschichte Zuhörergruppen für den Verein durch Berlin. Uwe Tobias ist seit Oktober 2013 dabei, er hat den Verein mit aufgebaut. Heute sind vor allem alte Freunde und Kollegen von ihm gekommen. Tobias freut sich sichtlich, umarmt die Hälfte der Anwesenden überschwänglich und läuft auch mal Arm in Arm mit jemanden von einem seiner früheren Schlafplätze zum nächsten. Dieses große Wiedersehen zur 1000. Stadtführung war seine Idee. „Ich hab es einfach mit Zahlen“, sagt er.

Die Preise für die Führung sind gestaffelt, der Verein finanziert sich außerdem durch Spenden und Fördermittel. Mit Schulklassen einen Schlafplatz bauen, Unternehmern Überlebenstricks beibringen und Touristen sein Berlin zeigen – das ist nun Tobias’ Alltag. Je nach Nachfrage führt er 15 bis 20 Gruppen im Monat von der Sandkrugbrücke am Hauptbahnhof bis zum Alten Museum.

„Berlinverbot“, das war eines der Dinge, die man Uwe Tobias nach seinem Fluchtversuch in der DDR angetan hat. „Ick bin Berliner. Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, murrt Tobias, der 22 Jahre alt war, als er über die Mauer stieg, und plötzlich Grenzsoldaten der DDR gegenüberstand. Er habe in ein Gewehr geschaut, sagt er. Schon vorher war er mehrmals im Zuchthaus gelandet, weil er die ihm zugewiesene Arbeit abgelehnt hatte. Den Soldaten sagte er nach seiner Festnahme, er wolle lieber drüben auf der Straße leben, als in der DDR Trabi zu fahren. Das tat er dann – aber erst nach der Wende.

Seit seiner Gefangenschaft leidet Tobias unter Platzangst, er besteht deshalb darauf, dass die Zuhörer vor ihm stehen und nicht von hinten an ihn herantreten. Wegen seiner Platzangst konnte er nicht in Notunterkünften übernachten und verbrachte die Berliner Winter draußen. Oder in der Charité, Teile des Krankenhauses standen leer und Tobias hatte einen Dietrich. Bis heute könne er gut mit Türen, sagt er. Sie reparieren oder eben aufbrechen.

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Die Tour startet an der Sandkrugbrücke, dort markieren Pflastersteine den ehemaligen Grenzverlauf. Nach der Wende wurde die Brücke sein Zuhause, Tobias deutet auf das Wasser. „Dort war ein Steg, da hab ich geschlafen“, sagt er. Die Treppen sei er im Suff öfter mal hinuntergefallen. Für Bänke hat der 63-Jährige eine Leidenschaft. Er erklärt die Härte der verschiedenen Holzarten, diese hier, das sei eine der mittelharten, meint er. Die Latten der Bank liegen nicht auf gleicher Höhe, an einer Stelle entsteht eine Kuhle als Sitz. Den Beckenknochen müsse man dort in die Mitte legen, damit man nicht besoffen von der Bank fällt, sagt Tobias.

Unter seinen Freunden und Bekannten, die die Jubiläums-Tour begleiten, ist Klaus Seilwinder. Er war ebenfalls sieben Jahre lang obdachlos und arbeitet seit 2015 als Stadtführer bei Querstadtein. „Damals haben wir uns ganz schön in die Wolle gekriegt“, sagt Seilwinder. Er war SED-Mitglied und habe seine politische Einstellung behalten. Als Tobias in Bautzen einsaß, war er dort Soldat. Als sie sich trafen, „prallten Welten aufeinander“.

Heute sind Tobias und Seilwinder die besten Freunde, man helfe sich gegenseitig. Auch das Thema Politik lassen die beiden nicht aus. „Wir skypen jeden Tag, tauschen uns aus“, sagt Tobias. Freundschaft, das sei für ihn wie Familie. Auch auf der Straße hatte Tobias drei gute Freunde, die er als Familie verstand. Heute hat er neben Freunden auch Nachkommen: acht Enkeltöchter und eine Urenkelin.

Wie Tobias schließlich von der Straße weg und zu Querstadtein kam, will er an einem ganz bestimmten Ort erzählen. Fragen dazu beantwortet er erst dort, neben der Friedrichstraße, wieder mal an einer Brücke. „Das war mein Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad“, sagt er. Die dritte Bank von links, das war seine. Tobias kramt ein grünliches Netz hervor. Zusammen mit Fleischerhaken und Kette war das sein Kühlschrank, damit hängte er Korn und Bier in die Spree. Er brauchte damals sechs Bier und eine halbe Flasche Korn, um die morgendlichen Entzugserscheinungen zu überwinden.

Nach einem schlimmen Sturz mit über vier Promille habe es dann „klick im Kopf“ gemacht. Tobias deutet an seine Schläfe. Nach sieben Monaten Therapie habe er drei Tage ohne Alkohol auf der Straße durchgehalten, danach lebte er in einem Männerwohnheim, bis er schließlich in die Sozialwohnung zog, in der er bis heute wohnt. „Ich kann nicht trinken, weil ich nicht will und ich will nicht trinken, weil ich nicht kann“, diesen Spruch wiederholte Tobias immer wieder, so habe er sich davon abgehalten wieder zur Flasche zu greifen.

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Elfriede Brüning, Sozialarbeiterin in der Wohnungshilfe, hat Uwe Tobias vorgeschlagen für Querstadtein zu arbeiten. Kurz bevor der Verein sich bei ihr vorgestellt hat, hatte Tobias bei einer Schifffahrt gar nicht mehr aufgehört von seinem Leben auf der Straße zu erzählen. Brüning lacht. Sie habe so viel Neues über ihn erfahren und sofort gewusst, er sei genau der Richtige dafür. Es tut Uwe Tobias sichtlich gut, seine Geschichte zu teilen. „Man muss über Sachen reden können, sonst kriegt man Depressionen“, sagt er.

Vor dem alten Museum, dem letzten Halt für heute, bettelt eine Frau mit Pappbecher. „Nein“, sagt Tobias laut. Man könne nicht jedem Obdachlosen etwas geben, sagt er. Doch was man geben kann, das sei Respekt.

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